Eine Veränderung des Reiseverhaltens ist überfällig – gerade nach Corona
Seit ihrer Gründung treten die NaturFreunde für einen Tourismus für alle ein – nicht nur für Privilegierte; für einen Tourismus, der sich als Partner für die Lebenswelt der Zielregionen versteht und dabei die Umwelt schützt.
Tourismus war einst die Chance für „substanzielle Selbsterfahrung“ für „alle, die reisen konnten und durften“, so die Reisejournalistin Edith Kresta – und zwar als Konsum des verfügbaren Reichtums an Zeit und Zahlungsmitteln. Dieser ist bewusst „kultivierbar“ und kann in seinen Qualitäten entwickelt sowie mit immer mehr und neuen Erfahrungen angereichert werden.
Als Mallorca auch von weniger Privilegierten erreicht werden konnte, wurde es als „Putzfraueninsel“ denunziert. Heute hingegen wird argumentiert: „Lasst den Malle-Touristen ihren Ballermann“, so die Kulturjournalistin Anna Fastabend in der taz. Natürlich verhalten sich diese „Malle-Touristen“ anders, als die neue Mittelschicht es gewohnt ist. Die behauptet zwar, sozialökologisch sensibilisiert zu sein, verbraucht beim Reisen dann aber mehr Ressourcen als die Pauschal- und Billigurlauber*innen.
Die Märzausgabe des NaturFreunde-Mitgliedermagazins NATURFREUNDiN hat sich in der Titelgeschichte mit der Zukunft des Reisens nach der Corona-Pandemie beschäftigt.
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„Die Welt scheint einen Unterschied zu machen, ob die Ohne- Maske-und-Sicherheitsabstand Zusammenstehenden Acne-Jeans tragen und Crémant trinken, oder ob sie riesige Neon-Sonnenbrillen auf dem Kopf haben und den guten Prosecco von Aldi im Glas“, wunderte sich Anna Fastabend. Denn während des Corona-Shutdowns spielten sich in „Berlin-Mitte ähnlich ‚dramatische‘ Szenen wie am Ballermann vor den Bars“ ab.
Eine Leistung der frühen NaturFreunde war es, durch die gemeinsam geschaffene Infrastruktur von Hütten, Häusern und Wegen einen bereichernden Tourismus für viele möglich zu machen. Und sie taten dies nicht als Nachahmung der Verhaltensweisen der Eliten, sondern entwickelten mit ihren solidarischen Verhaltensweisen und auch dem „Sozialen Wandern“ eine neue umweltsensible und sozial verantwortungsbewusste Tourismus-Kultur. Dieses Erbe muss immer wieder weiterentwickelt werden.
Für den anstehenden Wandel nach der Corona- Krise sei dabei empfohlen, sich die Intensität des Reiseerlebnisses zurückzuholen. „Länger, intensiver, weniger“ war schon vor 40 Jahren das Motto der grünen Bundestagsabgeordneten Halo Saibold, um die ökologische Last des Reisens zu reduzieren. Eine Veränderung des Reiseverhaltens ist überfällig, insbesondere nach Corona.
Aber so etwas kommt nicht von selbst. Menschen könnten immer auch anders, doch meist erfahren sie gar nicht erst, was alles möglich wäre. Durch Marketing und die Ausgestaltung des Angebotes wird das Interesse allein auf die im Kapitalprozess verwertbaren Formen gelenkt. Die Freiheit der Entscheidung wird damit auf ein kleines, ja winziges Feld verengt. Denn Konsument*innen können nur noch zwischen Waren unterscheiden.
Tourismusangebote als „käufliches Glück“
Dem Soziologen Andreas Reckwitz zufolge nutzt die „neue urbane und kosmopolitisch orientierte Mittelschicht“ alle Facetten der Globalität „als eine Ressource für die Entwicklung des Ich“. Aber der Rahmen dafür wird vorgegeben durch ein Angebot aus touristischen Formen, mit denen möglichst viel Profit zu machen ist. Und die öffentliche Hand unterstützt die neue Mittelschicht dabei mit der Infrastruktur von Flughäfen und Autobahnen. Weil sie glaubt, dass Wachstum mit Lebensqualität gekoppelt sei.
Das Wachstum des Tourismus ist kein Naturgesetz. Die Triebkräfte für die aktuellen touristischen Formen sind Gewinninteressen, ihr ausführendes Organ ist das Marketing und das Ziel ist die Konditionierung des Konsumenten für Tourismusangebote, die als „käufliches Glück“ verstanden werden.
Wie in anderen Bereichen, etwa bei der Zigaretten- oder Alkoholwerbung, kann der Gesetzgeber eingreifen. Die NaturFreunde haben sich allerdings nie allein auf den Staat verlassen. Viele Naturfreundehäuser waren Vorreiter für Bio- und Schilfkläranlagen oder autonome Energieversorgung. Mit anderen Jugendverbänden der Wander- und Alpenvereine hat die Naturfreundejugend schon im Jahr 1985 den sogenannten Bierenwanger Aufruf ‚Für einen Sanften Tourismus‘ in die Debatte eingebracht.
Andere alpine Verbände haben ebenfalls zukunftsorientiert gehandelt. Im Österreichischen Alpenverein zum Beispiel hat Peter Hasslacher dafür gesorgt, dass vorsorglich Grundeigentum in Hochgebirgslagen erworben wurde, in denen Gletscherski möglich wäre.
Spätestens nach den Bundestagswahlen in Deutschland dürfte es Änderungen geben, vielleicht sogar mit einer neuen Regierungskoalition und einem kaum zu erwartenden Reformfenster. Während manche darauf hoffen, fürchten sich andere davor.
Der Tourismusforscher Harald Pechlaner zum Beispiel will den Wintertourismus seit Ischgl nicht mehr als „Party-Tourismus“ verstanden sehen: Man „wird Abschied nehmen müssen vom Gedanken, dass die Leute nur Ski fahren wollen. Es geht ihnen immer mehr darum, in der Natur zu sein“, so Pechlaner. Wobei die Naturfreundejugend schon in den 1980er-Jahren im ehemaligen Naturfreundehaus Kanzelwandhaus keine „Skifreizeiten“ mehr veranstaltete, sondern „Winterfreizeiten“. Ski wurde damals nur bei ausreichender Schneehöhe gefahren, sonst waren Schneewanderungen – oder Schneeballschlachten – angesagt.
Für solche Verhaltensänderungen muss das Publikum allerdings konditioniert werden. Denn auch das heutige Aprés-Ski-Publikum wurde erst durch jahrzehntelanges „Fun-Marketing“ geschaffen – von all denen, die ökonomisch daran interessiert waren. Mit „Erfolg“: Wenn man den heutigen (oder gestrigen?) Skifahrer*innen ihren Pistenspaß nehmen wollte, gäbe es Aufstände.
Besser lässt sich mit einem Versprechen für mehr Lebensqualität für neue touristische Formen werben: Tempo 130 auf der Autobahn zum Beispiel ist nicht in erster Linie interessant wegen der Energieersparnis, sondern weil es mehr Lebensqualität bringt. Ähnlich ist es mit autofreien Innenstädten. Wer denkt denn heute noch daran, dass viele Fußgängerzonen früher mit parkplatzsuchenden Autos verstopft waren?
So auch beim Tourismus. Für Veränderungen und die Werbung dafür bedarf es der Akteure, und die müssen sich Verbündete sichern. Weil die Naturfreundejugend im Jahr 1985 für den Bierenwanger Aufruf Verbündete suchte und sie in den Jugendorganisationen der Gebirgs- und Wandervereine fanden, kam ein breit getragener – und nicht ganz wirkungsloser – Aufruf zustande.
Die Frage ist: Müssen die NaturFreunde heute einen neuen Aufruf für einen zukunftsfähigen nachhaltigen Tourismus erarbeiten, nicht nur wegen Corona?
Dieter Kramer
(Professor Dieter Kramer hat in Europäischer Ethnologie habilitiert und in Wien, Salzburg und Innsbruck gelehrt.)