Große Herausforderungen brauchen große Antworten – eine Kritik am „Green Deal“ von Michael Müller
Eine „Neuausteilung der Karten“ versprach Franklin Delano Roosevelt bei seiner Wahl zum 32. Präsidenten der USA 1933. Sein Land war von der Weltwirtschaftskrise von 1929 schwer gebeutelt. Der „Schwarze Freitag“ an der Wall Street hatte zu Millionen Arbeitslosen, zum Zusammenbruch von Unternehmen und zu großer sozialer Not geführt.
Roosevelt gab mit seiner Politik einer deprimierten Nation neue Hoffnung, er motivierte die Menschen. Er wollte Vollbeschäftigung und mehr Wohlstand für alle durch eine „soziale Disziplinierung der Wirtschaft“ erreichen. Der Wohlfahrtsstaat wurde zur wichtigsten Leistung des letzten Jahrhunderts.
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Illustriert wurde der „New Deal“ – ein Begriff aus der Pokersprache – mit einer populären Zeitungskarikatur: Drei wohlbeleibte Herren – ein Banker, ein Unternehmer und ein Politiker – sitzen am Spieltisch, drei abgemagerte Männer – ein Arbeiter, ein Handwerker und ein Bauer – stehen davor und verlangen neue Karten für ein neues Spiel mit neuen Partnern.
Roosevelt stützte sich bei seiner Politik auf die Arbeit von John Maynard Keynes, der in Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes die Arbeitslosigkeit als unvermeidlich im „kapitalistischen Individualismus“ herausgearbeitet hatte. Die Frage war für ihn nicht ob, sondern wo und mit welchen Mitteln der Staat intervenieren müsse. Seine Antworten waren sowohl eine fiskalische Globalsteuerung als auch gezielte Investitionen in Arbeitsmarkt und Infrastruktur.
Einen Weltkrieg und fast fünf Jahrzehnte erfolgreicher Wohlfahrtsstaatspolitik später begann erneut ein tiefer Einschnitt. Seit dem Ende des Kalten Krieges, der Globalisierung der Wirtschaftsprozesse und dem Aufstieg des Neoliberalismus sind die Nationalstaaten nur noch begrenzt in der Lage, eine keynesianische Wohlfahrtspolitik durchzusetzen. Ein einfaches Zurück zu den alten Konzepten kann es allerdings auch nicht geben, denn mit der Globalisierung der Umweltschäden werden planetarische Grenzen überschritten.
Was wir schon in den 70er-Jahren über die Endlichkeit unseres Planeten gelernt haben, zählt bis heute nicht wirklich. Obwohl immer deutlicher wird, dass es nicht weitergehen kann wie bisher, scheint niemand die Kraft zu haben, die drängenden Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen zu stellen, um den unreflektierten Wachstumsglauben zu stoppen.
Bei Keynes hieß es im Jahr 1930: „Im gegenwärtigen Augenblick erwarten die Menschen mehr als sonst eine grundlegendere Diagnose, sind sie ganz besonders bereit, sie aufzunehmen, begierig, sie auszuprobieren.“ Das gilt auch heute. Wir brauchen neue Wege, einen erneuten „New Deal“, der auf einer ökologischen Plattform aufbauen muss. Doch davon sind wir weit entfernt. Die Antworten von Bundesregierung und Europäischer Kommission sind keine programmatischen Konzepte, sondern die Aneinanderreihung unterschiedlicher Forderungen ohne analytische und reformerische Kraft. Sie wollen dem Zeitgeist gerecht werden, doch wir brauchen weit mehr.
Die Politik ist in der Rolle der Getriebenen, nicht der Gestalterin. Ein Überbietungswettlauf in der Radikalität einzelner Forderungen bringt uns natürlich auch nicht weiter, aber sehr wohl die Radikalität eines Reformkonzepts, das aus der Klima- und Umweltpolitik eine Gesellschaftspolitik entwickelt, die gleichermaßen mehr Demokratie, soziale Gerechtigkeit und die ökologische Verträglichkeit zum Ziel hat und miteinander verbindet.
Doch wer verfolgt sie wirklich, die großen Ideen der Nachhaltigkeit oder der sozial-ökologischen Gestaltung der Transformation? Brüssel will einen „Green Deal“, wo aber bleibt da der „New Deal“? Die bisherige Politik soll erweitert werden, ja. Aber wo bleibt die Fortentwicklung des wohlfahrtsstaatlichen Konzepts? Wo bleibt der „ökologische New Deal“, der auf der Basis von Klima- und Naturverträglichkeit auch zu mehr sozialer Gerechtigkeit kommt? Ohne mehr soziale Gerechtigkeit und ohne mehr Demokratie wird es nicht zum ökologischen Umbau kommen.
Umgekehrt ist genauso richtig: Ohne die Einhaltung ökologischer Grenzen werden Demokratie und sozialer Zusammenhalt zerstört. Von daher brauchen wir einen „ökologischen New Deal“, eine soziale und ökologische Gestaltung der Transformation. Und das ist weit mehr als einzelne Ergänzungen oder Korrekturen im bestehenden Modell.
Der „New Deal“ erfordert auch heute ein völlig neues Spiel. Denn die Kernidee der modernen Welt funktioniert nicht mehr: der Glaube an eine Linearität in der Entwicklung der modernen Gesellschaft durch wirtschaftliches Wachstum und technischen Fortschritt. Aus der Industrieproduktion ist genauso eine Industriefolgenproduktion geworden. Eine andere Welt wird erst möglich, wenn es zu dem Eingeständnis kommt, dass der Markt es nicht richtet, ein Wachstum alter Art nicht zu verantworten ist und wir endlich lernen müssen, Grenzen einzuhalten – soziale wie ökologische. Und das ist eine Einheit, die auch so gesehen werden muss.
Der Kern eines „ökologischen New Deals“ heißt: Weg von dem auf wirtschaftliches Wachstum und technischen Fortschritt verengten Glauben an Linearität, der die moderne Welt geprägt hat, das Machbarkeitsparadigma der ständigen Vorwärtsbewegung von Wirtschaft und Gesellschaft. Und hin zu einem Denken und Handeln in Kreisläufen und der Beachtung von Grenzen.
Das stellt uns in neuer und verschärfter Form vor die Gerechtigkeits-, Verteilungs- und Demokratiefrage. Das alte Versprechen von Fortschritt durch die Verteilung möglichst hoher Zuwächse funktioniert nicht mehr, wie die globale Klimakrise oder auch die wachsenden sozialen Ungleichheiten in aller Schärfe zeigen. Politik muss gestalten, und zwar umfassend und schnell.
Die Zeit wird knapp. In 25 Jahren werden wir eine vom Menschen verursachte Erderwärmung um 1,5 Grad Celsius erreicht haben, zwei Jahrzehnte später dann von 2 Grad. Der planetarische Virus, der das Immunsystem unserer Erde zerstört, kommt immer schneller auf uns zu. Die Erde wird zu einer zerbrechlichen Einheit.
Um noch einmal Roosevelt zu zitieren: Große Herausforderungen brauchen auch große Antworten.
Michael Müller
Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands