Flucht über das Karwendel

Eine Bergtour auf historischen NaturFreunde-Spuren

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Viele NaturFreundinnen und NaturFreunde leisteten Widerstand gegen Faschismus und Nationalsozialismus. Unter anderem führten sie Verfolgte über die Berge in die Freiheit. 1933 flüchteten der von Nationalsozialisten verfolgte, spätere bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner und der sozialdemokratische Journalist Franz Blum unter Leitung des Münchner NaturFreunds Hans Fischer über das Karwendel. Die zweitägige Flucht führte von Mittenwald vorbei an den SA-Posten über die steilen Felsen der Tiefkarspitze nach Scharnitz in Österreich.

Wilhelm Hoegner hatte sich schon 1923 im Münchner Untersuchungsausschuss über den Hitler-Putsch einen Namen als Gegner der Nationalsozialisten gemacht. Seine berühmteste Rede gegen die Nazis hielt er am 18.10.1930 im Berliner Reichstag, während der es zu Tumulten im Saal kam, in deren Verlauf Hoegner mit dem Tod bedroht wurde. Hoegners Rede wurde als Broschüre („Der Volksbetrug der Nationalsozialisten“) millionenfach verbreitet, er selbst wurde zu einem der zentralen Gegner des Nationalsozialismus. Trotzdem oder gerade deswegen wollte Hoegner in Deutschland bleiben.

Die Nacht vom 29.6.1933 verbrachte Hoegner auf Anraten von Freunden nicht zu Hause und entging so einer Verhaftung. Denn an diesem Abend fanden zahlreiche Hausdurchsuchungen statt, bei denen fast alle sozialdemokratischen Abgeordneten verhaftet und nach Dachau gebracht wurden. Die verbliebene SPD-Führung beschloss, eine Person ins Ausland zu schicken, um von dort für die Partei weiterwirken zu können. Franz Blum kam die Idee der Flucht über die Berge.

Die Route über das Karwendel

Die Flucht Hoegners wird in mehreren Artikeln bzw. Büchern beschrieben: im Artikel „Fluchthilfe über die Alpen“ von Hans Fischer und im Buch „Flucht vor Hitler“ von Wilhelm Hoegner. Beim ersten Lesen scheinen die Beschreibungen etwas widersprüchlich, bei Kenntnis des Geländes passen die Erinnerungen aber gut zusammen. Fischer, Hoegner und Blum starteten am 11.7.1933. Um niemandem zu begegnen, stiegen sie von Mittenwald oft weglos und über Seitenpfade problemlos bis zum Ochsenboden auf. Oberhalb aber konnte das Gelände vom SA-Posten auf der Hochlandhütte eingesehen werden. Fischer beobachtete die SA, bis sie sich vom Fernrohr entfernte, und gab dann das Zeichen zum Queren der Stelle. Nun stiegen sie unbemerkt in leichter Kletterei zur Tiefkarspitze auf. Ihre Route führte dabei über einen ausgesetzten Grat, dessen Schlüsselstelle den Schwierigkeitsgrad 3+ hat. Auch das Umgehen der schwierigsten Stellen war wegen des brüchigen Geländes wenig einladend.

Hoegner hatte kaum alpine Erfahrung, er wurde daher von Fischer passagenweise am Seil gesichert. Hoegner schreibt, dass er ins Seil stürzte, sich dabei am Knie eine Wunde riss, der Sturz aber von Fischer gehalten wurde. Schon Richtung Tiefkarspitze kletternd wurden sie von der SA auf der Hochlandhütte doch noch gesichtet, die sie jedoch für Kletterer hielt und ihnen zuwinkte. Knapp unterhalb des Gipfels der Tiefkarspitze erreichten die drei den schmalen Felsgrat, der die Grenze zu Österreich bildet. Hier gerieten sie in ein fürchterliches Gewitter mit Hagel und Schnee.

Nachdem das Schlimmste überstanden war, machten sie sich durchnässt und halb erfroren an den Abstieg, den der alpin erfahrene Blum selbstständig, Hoegner aber gesichert von Fischer in Angriff nahm. In der einsetzenden Dunkelheit war die Orientierung problematisch, Hoegner war darüber hinaus vollkommen erschöpft. Trotzdem kämpften sie sich durch steiles Felsgelände und Schneefelder bis zur Straße, die von Scharnitz zum Karwendelhaus führt.

Es lag zwar noch ein langer Fußmarsch nach Scharnitz vor ihnen, die Gefahren waren aber vorbei. In den frühen Morgenstunden kamen sie im „Gasthof zum Neuwirt“ in Scharnitz an. Der Neuwirt, ein Kontaktmann der SPD, versorgte die Flüchtlinge. Blum und Hoegner nahmen umgehend mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs Kontakt auf. Nach Ausschaltung der Demokratie in Österreich flüchtete Hoegner weiter in die Schweiz. Franz Blum blieb in Österreich und überlebte mit viel Glück die NS-Zeit. Er starb 1947 in Linz.

Fischer fuhr mit dem Zug wieder nach München und entging dabei – wie so oft – seiner Verhaftung nur knapp. Er war weiterhin für die illegale Sozialdemokratie und als Fluchthelfer tätig. Er schleuste unter anderem Hoegners Frau und Kinder über die Grenze in die Schweiz. Ende 1944 wurde Fischer wegen eines Fotos verhört, das der Gestapo in die Hände gefallen war und ihn mit Hoegner und Blum vor der Flucht zeigt, wobei er aber nicht zu erkennen ist, weil er sich zur Seite gedreht hatte. Auf die Frage, ob er denn die dritte Person kenne, erklärte Fischer lachend: „Entschuldigen Sie, wenn ich die zwei im Gesicht nicht kenne, wie soll ich denn den an den Ohrwascheln kennen?“ Fischer blieb bis zu seinem Tod 1991 der SPD und den NaturFreunden treu.

Der Autor dieses Textes, Erich König von den NaturFreunden Landstraße (Österreich), hat sich im September 2020 auf die Spuren der Flucht Hoegners begeben. Seine Wanderoute beschreibt er hier:

Wie es sich heute auf der Route von damals wandert

Die Wanderung entlang Hoegners Fluchtroute sowie 49 weitere Touren zur Geschichte der NaturFreunde sind auch im Buch "Berg frei! Die 50 schönsten Touren auf den Spuren der Naturfreunde-Bewegung" von Manfred Pils (2019) beschrieben.

Im September 2020 mache ich mich auf den Weg, Hoegners Fluchtroute gemeinsam mit sieben weiteren NaturFreund*innen nachzuwandern – oder besser gesagt Teile der Route, denn wir müssen uns glücklicherweise nicht verstecken und können auf offiziellen Wanderwegen bleiben.

Wir starten bei der Talstation der Karwendelbahn in Mittenwald (933 m) und steigen über den Ochsenbodensteig steil durch Wald auf und gewinnen schnell an Höhe, steigen dann aber bis zur Weggabelung Dammkarhütte/Hochlandhütte ab. Die drei Flüchtenden dürften von hier aus weglos Richtung Predigtstuhl gegangen sein, um der auf den beiden Hütten stationierten SA auszuweichen.

Wir gehen weiter Richtung Hochlandhütte (1.623 m). Ein lohnender Abstecher, da von der Hütte aus sowohl Teile der Fluchtroute als auch die Hänge der Tiefkarspitze (2.451 m) einsehbar sind. Kein Wunder also, dass die SA hier einen Posten mit Fernrohr stationiert hatte (3 Stunden Gehzeit).

Von der Hochlandhütte gehen wir ein Stück retour zur Abzweigung Richtung Predigtstuhl. Erst geht es durch ein Latschenfeld und steilen Schotter, dann über einen versicherten Aufschwung zu einer Scharte (A/B) und über eine schöne Querung zum Predigtstuhl (1.921 m) (1¼ Stunden Gehzeit). Hier sind auch die Flüchtenden vorbeigekommen und über einen Felsgrat direkt Richtung Tiefkarspitze weitergeklettert. Wir steigen steil und ausgesetzt erst über Schrofen, dann über ein großes Schuttfeld, in dem sich der Weg verliert, Richtung Bergwachthütte im Dammkar ab. Bald führt ein breiter Weg durch das hintere Dammkar hinauf zu einem langen beleuchteten Tunnel, durch den wir zur Bergstation der Karwen-delbahn kommen (1¾ Stunden Gehzeit). Von hier besteigen wir noch die westliche Karwendelspitze (2.385 m) über den Klettersteig (C) und steigen über den Normalweg (A/B) ab (über den man auch aufsteigen kann), um noch einen Ausblick auf die Tiefkarspitze und einen Einblick in das Karwendeltal, durch das die Flüchtenden rausmarschiert waren, zu geniesen (maximal 1 Stunde Gehzeit).

Da es in der Bergstation keine Nachtquartiere gibt, fahren wir mit der Seilbahn zurück nach Mittenwald und steigen am nächsten Tag mit der Bahn zur Bergstation (2.243 m) wieder auf. Von hier klettern wir sicher und gesichert entlang der Grenze Richtung Scharnitz. Der etwa drei Kilometer lange Höhenweg ist ein nicht allzu schwerer, wunderschöner, über mehrere Gipfel führender Gratklettersteig (B). Von der Bergstation geht es zum Einstieg in den Klettersteig auf der Nördlichen Linderspitze (2.372 m).

Im nördlich gelegenen Karwendeltal können wir mehrfach die Straße erkennen, auf der Fischer, Hoegner und Blum Richtung Scharnitz wanderten. Wir folgen dem aussichtsreichen Grat über zwei Leitern (A) und Holzbrücken zum sogenannten Gatterl. Hier führt eine sehr lange Eisenleiter (B) auf die Mittlere Linderspitze (2.289 m), von der wir entlang des Grats (zwei Leitern B) zur Südlichen Linderspitze (2.305 m) gelangen. Dann geht es hinunter in den Gamsanger und wieder hinauf (Achtung Steinschlag) auf die Sulzleklammspitze (2.321 m). Dem Grat entlang, dann ein kurzer Abstieg über eine Rinne (A/B) und der Aufstieg zur Kirchlspitze (2.301 m). Auf dem Grat geht es weiter, bis das Gelände flacher wird und wir über Wiesen zum Brunnsteinanger absteigen (3 Stunden Gehzeit).

Von der Scharte des Brunnsteinangers geht es wieder bergauf zur nicht bewirtschafteten Tiroler Hütte (2.153 m), zur Brunnsteinspitze (2.180 m) und zum Brunnsteinkopf. Nun erfolgt der Abstieg über den steilen Pirzelgrat. Der Weg führt teils über felsiges Gelände, teils durch Latschen und ist nicht immer ganz einfach zu finden. Ab der Adlerkanzel verläuft der Weg noch immer auf einem Kamm steil bergab nach Scharnitz (984 m) (2 Stunden Gehzeit). Von Scharnitz bringt uns die Bahn in wenigen Minuten zurück nach Mittenwald.

Erich König
NaturFreunde Landstraße (Österreich)

Weitere Bilder

Auf historischen Spuren Flucht über das Karwendel

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